Dreist kommt weiter

Nein, das ist keine Beschreibung von jemandem, der mit Dreistigkeit seinem Traum näher gekommen ist. Hier geht es um die andere Seite, um den Verlierer in der Nummer.

Eine Frau im erweiterten Bekanntenkreis, nennen wir sie Sabine, hat das große Los gezogen. Sie hat in einer Zeit, in der es um Arbeitsplätze schlecht bestellt ist, einen neuen Job gefunden.

Die Verliererin

Sabine ist im mittleren Alter, hat eine glückliche Familie, soweit ich das beurteilen kann und in ihrem Leben nie viel gehabt. Bei manchen Menschen ist das so. Nichts gelernt oder plötzlich gibt es den Beruf nicht mehr, den Du mal gelernt hast. Die Ursachen sind aber auch nebensächlich.

Sabine arbeitet seit ein paar Jahren in Teilzeit bei einem Fahrzeugverleih und war anfangs für die Reinigung der Fahrzeuge zuständig. Im Laufe der Zeit wurden ihre Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten stark erweitert, nur der Lohn ist nicht mit gewachsen. Aber die Arbeit macht ihr Spaß.

Die Gewinner

Was ihr weniger Spaß macht, ist ihr Chef, der als Choleriker zwar ständig Besserung verspricht, seine Versprechen aber nach spätestens zwei Wochen wieder vergessen hat. Ihre männlichen Kollegen, die für den technischen Bereich zuständig sind, bekommen deutlich mehr Geld für weniger Arbeit, so ist das ja oft.

Egal, ob es draußen friert oder die Bäume vor Hitze vertrocknen, Fahrzeuge müssen immer gereinigt werden. Und das wird nicht weniger, denn die liebe Kundschaft stellt von Jahr zu Jahr mehr Ansprüche. Sogar für das Funktionieren der technischen Geräte, mit denen die Kollegen ihre Arbeit machen, muss Sabine inzwischen sorgen, den Fachleuten ist das zu anstrengend.

Mit Sabine zusammen arbeiten noch zwei weitere Fahrzeugpflegerinnen. Eine ist vor wenigen Wochen neu angefangen und weiß noch immer nicht, worauf sie achten muss und die andere ist körperlich kaum noch in Lage, alles zu erledigen.

Die Wahl der Qual

Sabine quält sich seit zwei Jahren nur noch zur Arbeit, sie hat immer mehr zu tun, im letzten Jahr wurden ihr 200 Überstunden einfach mal gestrichen. 200 Stunden! Normalerweise arbeitet sie nur 80 oder 100 Stunden im Monat, will heißen: ihr sind mal eben zwei Monate Pause gestohlen worden. Ob der Arbeitgeber das nun darf oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.

Nun hat Sabine in ihrer Familie Unterstützung und dadurch einen neuen Job gefunden. Während der Einarbeitungszeit würde sie damit etwas weniger verdienen, danach immerhin das Gleiche wie jetzt auch. Allerdings mit weniger Überstunden, nur noch fünf statt sechs Tagen pro Woche und ohne die Verantwortung, die sie jetzt hat.

Es kam der Tag, an dem Sabine ihre Kündigung abgegeben hat. Sie hat extra noch darauf gewartet, dass ihre Kollegin aus dem Urlaub wieder zurück ist, damit es den Chef nicht so hart trifft. Sabine ist ein guter Mensch und will möglichst alles friedlich regeln.

Ihr Chef fand ihre Kündigung so gar nicht gut und sagte ihr, sie könne jetzt nicht gehen. Wie sie sich das vorstellt, fragte er. Dann kam die Kollegin dazu, die den Job nicht mehr so recht auf die Reihe bekommt und war natürlich erschüttert, wie Sabine es wagen könne, sie alleine zu lassen.

Sabine wollte mit der Kündigung zusammen ihre Überstunden und ihren ihr zustehenden Resturlaub nehmen, um anschließend nicht mehr wiederkommen zu müssen. Damit hätte sie dann einen Monat Pause gehabt, bis sie den neuen Job anfängt.

So geht Dreistigkeit

Ihr Chef sagt ihr, dass er den Urlaub auszahlen würde, sie müsse bis zum letzten Arbeitstag kommen. Drei Wochen Urlaub waren allerdings bereits genehmigt, vorher schon. Es steht erneut auf einem anderen Blatt, ob der Chef das so machen durfte. Kleiner Tipp für Dich, wenn Du in einer ähnlichen Situation bist: nein, durfte er nicht. Er hätte lediglich eine korrekte Übergabe verlangen dürfen und die ist bei einer Reinigungskraft für Fahrzeuge nicht so sehr groß.

Der Chef hat Sabine damit Angst gemacht, dass er ihr einen Monat nicht bezahlen würde, wenn sie nicht käme und dadurch ist sie weich geworden. Der Chef hat ein sehr ähnliches Spiel bereits mit drei oder vier Arbeitnehmerinnen vorher genauso macht: Angst machen, laut werden und gleichzeitig tolle Versprechen machen, die er anschließend nicht einhält. Ich kenne auch den Chef und die betroffenen Kolleginnen.

Aus Angst verloren

Sabine hat nun aus Angst vor Repressalien und vor finanziellen Einbußen den neuen, noch nicht angetretenen Job wieder gekündigt und versprochen, noch mindestens ein Jahr in ihrer jetzigen Firma weiter zu arbeiten.

Da fällt mir nichts zu ein, wenn ich mal deutlich bin.

Geht’s noch? Die Psyche im Eimer, der Körper kaputt, Zeiten nicht planbar, Überstunden gestrichen, Nettoverdienst im dreistelligen Bereich, Launen des Chefs sind auf Biegen und Brechen auszuhalten, Schikanen an der Tagesordnung, mehrere Verstöße gegen geltendes Recht, Gesundheit und Arbeitsschutz sind dem Chef völlig piepegal und die Angestellten bleiben? Wie kommt das?

Sabine ist die klare Verliererin in dieser Angelegenheit. Der Chef hat erneut gelernt, dass er machen kann, was er will und damit durchkommt. Er hat für mindestens ein Jahr eine gute Mitarbeiterin, die alles mit sich machen lässt und die ihren Job versteht. Sie macht Überstunden, wenn er es befiehlt und lässt sie sich wieder streichen, wenn ihm danach ist. Sie arbeitet für seinen Traum. Sechs Tage die Woche. Für ein Taschengeld.

Sabine hat Schlafstörungen, war vor zwei Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben im Urlaub und ihr einziges Thema ist ihre Arbeit und der Stress, den diese Arbeit erzeugt. Gerade ist sie Großmutter geworden, nicht zum ersten Mal. Das Thema geht dabei fast unter.

Der Chef dagegen war so dreist, ihr Dinge anzudrohen, die nicht rechtmäßig sind und ich bin mir sicher, dass er das wusste. Es war reine Einschüchterung und sie hat funktioniert. Ob Sabine nächstes Jahr nochmal die Kraft hat, sich einen neuen Job zu suchen, warte ich gespannt ab. Der Chef unterhält ein Unternehmen mit einem Sachwert im hohen einstelligen Millionenbereich. Er selbst besitzt ein schönes Haus auf großem Grundstück, fährt einen Porsche, seine Frau fährt ein Audi Cabrio, drei oder vier Urlaubsreisen pro Jahr sind kein Problem und die Mitarbeiter der Firma können sich kein eigenes Auto leisten. Das sind so die Verhältnisse.

Kaputt

Was hat der Chef erreicht? Die Mitarbeiter sind ihm fast schon hörig. Da Sabine nun vermutlich mindestens noch ein Jahr bleibt, kann er ganz in Ruhe für die Mitarbeiterin, die ihren Job nicht mehr so recht schafft, Ersatz suchen. Bis dahin übernimmt Sabine ihren Job mit. Nur bezahlt wird sie dafür nicht.

Leider ist Sabine inzwischen an einem Punkt angekommen, wo es schon fast zu spät ist. Dazu kommt, dass sie gerne alles harmonisch hätte und ihr der Weitblick und die Ideen fehlen, aus dieser Situation was richtig Gutes für sich herauszuholen.

Ich habe eine Idee, mit der Sabine sich auf eigene Füße stellen könnte, denn es gibt etwas, das sie in der Firma gelernt hat: Organisation. Sie kann sehr gut sich selbst und andere organisieren und sie hat den Weitblick, den es für die Führung eines Unternehmens braucht. Zumindest in einem überschaubaren Bereich, wo es auf Timing und Handarbeit ankommt.

Allerdings ist Sabine auch nicht der Mensch, der sich selbständig machen würde. Sie hat in ihrem Leben gelernt, dass man für andere arbeitet und das tut sie. Also bleibt sie noch eine ganze Weile lang die Verliererin in dieser Sache.

Wie sieht es bei Dir aus? Erkennst Du Dich selbst in dieser Story? Bist Du gerade in einer ähnlichen Situation? Kannst und willst Du die Kraft noch aufbringen, da herauszukommen? Oder hast Du schon aufgegeben und gibst auch gleich noch den Rest Deines Lebens für jemanden auf, der damit seinen Traum erfüllt? Hast Du einen Traum? Wirst Du ihn erleben oder bleibt es für immer ein Traum? Wovor hast Du vielleicht sogar Angst?

Wenn Du jetzt nachdenklich geworden bist, komme gelegentlich hierher zurück. Niemand muss alles alleine machen und ein Chef muss kein – Du weißt schon – sein.

Stay tuned!

Jörg